Jetzt mal ehrlich: Sagt Ihnen der Begriff „Arbeiten 4.0“ etwas? Könnten Sie irgendjemand erklären, was es damit auf sich hat? Ich kann es noch nicht. Ich würde es gerne verstehen. Deshalb lese ich, was ich bekommen kann. Schaue mir You-Tube Videos von Barcamps an und versuche zu begreifen, wohin die Reise geht. Mit dem Film Augenhöhe fing es an. Unternehmen die etwas anders machen, als die gängige Management -Logik es vorsehen würde.
Reinventing Organisations
Dann das Buch von Frederic Laloux: „Reinventing Organisations“. Ich bin noch nicht fertig mit dem Lesen, vielleicht möchten Sie sich schon einmal ein Video dazu anschauen. Fest steht: da bewegt sich etwas. Wenn ein ehemaliger McKinsey Berater zu dem Schluss kommt, dass es so, wie es in den meisten Unternehmen läuft, nicht mehr weitergehen kann, dann macht mich das neugierig.
Vertrauen in Organisationen
Und ich bin zutiefst berührt von Lalouxs Erkenntnissen. Es geht um Vertrauen und um das Abgeben von Macht, um sich selbststeuernde Systeme oder Teams, um den Glauben an die grundsätzliche Leistungsbereitschaft von Menschen. Laloux beschreibt verschiedene Branchen, vom Pflegeservice über Krankenhäuser bis zu Wirtschaftsunternehmen. Er erinnert mich mit seinen Studien und Überlegungen an Otto Scharmers „Theorie U – von der entstehenden Zukunft her führen.“
Meine Erfahrungen der letzten Jahre, mit den Folgen von Change – Prozessen, haben mich vorsichtig werden lassen, wenn es um neue Organisations – Modelle geht. Zu oft wird neuer Wein –sehr teuer- in alten Schläuchen geliefert. Teilweise traue ich mich schon gar nicht mehr, mir vorzustellen wie es wäre, wenn wir etwas ganz anderes versuchen würden. Als ich Laloux Buch entdeckt habe, mit dem Untertitel „Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Organisationen“ habe ich nicht sofort zugeschlagen und es gekauft. Ich hab zuerst im Netz ein wenig drum rum gelesen, vielleicht weil ich misstrauisch bin. Und jetzt freue ich mich jeden Abend auf die Zeit vor dem Einschlafen um weiter zu lesen!
Einfach mal vertrauen
Ich bin besonders angetan von der Vorstellung bedingungslosen Vertrauens in Mitarbeiter. Man muss sich nur mal ein wenig damit beschäftigen. Stellen sie sich vor sie gehen zur Arbeit, sie haben keine Zeiterfassung, sie erledigen die Arbeit die zu machen ist, gemeinsam mit ihrem Team. Sie haben keinen Chef, sie wissen jedoch, dass sie ihren Arbeitsplatz nur dann behalten, wenn das Unternehmen in dem sie arbeiten, wirtschaftlich bleibt. Die Unternehmensführung vertraut ihnen, dass sie wissen was zu tun ist und dass sie tun was möglich ist. Sie übernehmen die volle Verantwortung für ihre Arbeitsergebnisse. Niemand kontrolliert sie. Die Arbeitsabläufe stimmen sie gemeinschaftlich ab. Für Fragen oder Verbesserungsvorschläge haben sie ein internes Wiki in dem sie alle Fragen stellen können die sie alleine nicht lösen können oder Verbesserungen anderen zugänglich machen können. Die Kompetenzen der Teammitglieder sind bekannt, jeder bringt das ein, was er am besten kann. Dies führt dazu dass sie sich mit ihrem Wissen wertgeschätzt fühlen. Wenn sie mehr Arbeit haben, stellen sie als Team mehr Leute ein oder suchen sich Hilfe bei anderen Teams die weniger Arbeit haben.
Und jetzt das Ganze nochmal in herkömmlichen Strukturen:
Sie gehen zur Arbeit und erfassen die Arbeitszeit. Die Arbeit die zu erledigen ist machen sie, manchmal jedoch ungern, da ihr persönlicher Rhythmus nicht zu den Arbeitszeiten passt. Teamarbeit im klassischen Sinn heißt, dass sie bestimmte Aufgaben verordnet bekommen, die sie zu erledigen haben. Die Arbeitsergebnisse sind zu dokumentieren und werden von ihrem Vorgesetzten überprüft. Die Unternehmensführung zeichnet sich durch straffe Vorgaben und Kontrollinstrumente aus. Ihre Arbeit wird kontrolliert. Sie erhalten regelmäßig Rückmeldung ob sie noch auf Linie sind. Ihr Chef beurteilt sie in erster Linie anhand von Kennzahlen, weniger anhand von Kompetenzen die er bei Ihnen wahrnimmt. Er kennt sie vermutlich auch nicht so genau, weil er keine Zeit und zu viele Kontrollaufgaben hat, um sich mit dem einzelnen Mitarbeiter befassen zu können. Wenn sie Fragen haben oder Verbesserungsvorschläge, wissen sie meist nicht, wer ihnen diese beantworten kann oder wie sie etwas umsetzen können und dürfen. Sie arbeiten für die Zielerreichung unabhängig von ihren Kompetenzen. Diese spielen für die Arbeitsprozesse eine untergeordnete Rolle. Sie wissen dass sie jederzeit ersetzbar sind. Wenn das Arbeitsaufkommen ihre Kapazitäten übersteigt, wird nicht reagiert, sie werden es schon irgendwie schaffen, wenn auch qualitativ schlechter.
Was mangelndes Vertrauen auslöst
Bei diesen Überlegungen denke ich an Pflegekräfte, an Krankenpflegepersonal, an Industrieunternehmen und an Behörden. Hört man Menschen im Coaching über ihre Arbeitssituation reden, wird schnell klar, dass es sehr oft um Kränkungen geht, die durch mangelndes Vertrauen in die Kompetenz und Leistungsbereitschaft von Mitarbeitern entstehen. Und fatalerweise bewirken diese Kränkungen eine Form von Downshifting das nicht im Interesse eines Unternehmens sein kann. Diese Mitarbeiter stellen dann erst einmal ihre Leistungsfähigkeit unter die Zielvorgaben, oft die einzige Möglichkeit um noch irgendetwas zu kontrollieren, wenn sie schon nicht mit ihren Stärken und Kompetenzen wahrgenommen und geschätzt werden. Mir hat vor einigen Jahren ein Mitarbeiter als Reaktion auf die akribische Nachfrage der Personalabteilung bezüglich der Zeiten einer Geschäftsreise völlig aufgelöst erklärt, dass er jeden Tag ohne Pause zehn Stunden für das Unternehmen arbeitet, selten Geschäftsreisen überhaupt abrechnet, dies jedoch ab sofort anders würde: Er mache nun Dienst nach Vorschrift. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie lange es dauert um diesen Mitarbeiter wieder für das Unternehmen zu gewinnen.
Oder ganz aktuell aus dem Freundeskreis. Change und Berater im Unternehmen, neue Prozesse und neue IT-Infrastruktur. Immer wieder die Botschaft an die noch verbliebene Mannschaft, dass jeder ersetzbar sei. Ja glaubt denn tatsächlich irgendjemand, dass die Mitarbeiter nach dem Change nochmal für irgendwas zu begeistern sind?
Macht Vertrauen produktiv?
Lalouxs Forschungen zeigen, dass die Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter, die Arbeitszufriedenheit und die Produktivität von Firmen, die mit Vertrauen führen, überdurchschnittlich sind. Allein dieser Aspekt sollte Führungskräfte und Organisationsentwickler hellhörig machen. Was wird oft für ein Aufwand getrieben, um konkurrenzfähig zu bleiben, was wird Druck aufgebaut um auch noch das letzte Quäntchen an Leistung aus den Menschen rauszuholen, zu oft um den Preis hoher Krankheitsraten. Oder all die Seminare zur Mitarbeitermotivation. Was könnte da Geld gespart werden, wenn sich Führungskräfte und Vorstände auf einen längst fälligen Paradigmenwechsel einlassen würden. Wenn sie begreifen würden, dass der Mensch tatsächlich das wichtigste Kapital des Unternehmens ist, dass sich Kreativität und Lust zur Problemlösung viel eher in einem Umfeld einstellen, in dem Vertrauen herrscht. Mir fällt da immer ein High-Tech Unternehmen vor Ort ein. Dort werden die Mitarbeiter zu Workshops geschickt, um zu lernen wie sie kreativer werden. Am Arbeitsplatz haben sie starre Vorgaben, wieviel Zeit sie für was aufzuwenden haben. Nach allem was ich weiß, kann in so einem Klima keine Kreativität gedeihen…
Virtueller Erfahrungsaustausch
Ich würde Sie gerne einladen, zu einem virtuellen Erfahrungsaustausch. Schauen Sie sich den Film Augenhöhe an, lesen sie Lalouxs Buch und schreiben Sie mir Ihre Gedanken. Vielleicht gelingt es den noch so unscharfen Begriffs des „Arbeiten 4.0“ mit mehr Leben zu füllen. Vielleicht haben sie auch Lust den Artikel zu teilen.
Kaum zu hoffen wage ich, dass sich klassisch, hierarchisch strukturierte Unternehmen zu neuen Ufern aufmachen, aber wer weiß…
Ehrlich gesagt verstehe ich den Film nicht so richtig. In den Videos wird wenig Respekt und Wertschätzung den anderen gegenüber gebracht. Bei der Diskussion im Aufenthaltsraum des Getränkeherstellers z. B. werden Meinungen nicht wirklich akzeptiert, viel mehr werden Mitdiskutierende einfach überstimmt und somit vor allen Kollegen vorgeführt … das Bewerbungsgespräch am runden Tisch mit 6 (!) Personen für eine „einfache“ Stelle geht gar nicht. Irgendwie fehlt hier bei allen Firmendiskussionen die Ernsthaftigkeit.
Liebe Larah,
Deine Antwort zeigt mir einmal mehr wie unterschiedlich Menschen die Welt wahrnehmen. Der Film Augenhöhe zeigt Unternehmen die großen Wert auf Mitarbeiterbeteiligung, flache Hierarchien und auf einen respektvollen Umgang legen. Krankenhäuser zeichnen sich z.B. durch antiquierte Führungsstrukturen aus. Die Systelios Klinik ist da eine wohltuende Ausnahme. Wirkt der Film auf Dich zu sehr konstruiert? Wie immer freue ich mich sehr auf Dein Feedback!
Herzlichst
Margit
Wo ist denn der respektvolle Umgang, wenn man in einer Diskussion mundtot gemacht wird? Alle dürfen mitreden, toll, aber zum Schluss müssen alle zustimmen… Keiner leistet Widerstand. Wo ist hier die Ernsthaftigkeit? Ich glaube, dass das wirkliche Leben in den hier dargestellten Unternehmen absolut anders aussieht oder das arbeiten auf „Augenhöhe“ hier langfristig nicht gut läuft. Was ist, wenn eine Führungskraft gar nicht auf Augenhöhe arbeiten will?
Wenn eine Führungskraft nicht auf Augenhöhe arbeiten will, dann funktioniert es nicht. Mir ist klar dass es viele Führungskräfte gibt, die das nicht wollen. Das hat ja auch etwas damit zu tun dass Macht abgegeben werden muss und das ist nicht einfach. Bei der Szene aus Premium Cola fühle ich mich ein wenig an politische Diskussionszirkel aus den Achziger Jahren erinnert. Bemerkenswert ist aber die Tatsache, dass es sich um einen demokratischen Entscheidungsprozess handelt. Ich kenne in der Region kein einziges Unternehmen bei dem das so gehandhabt wird.
Ich kenne auch kein Unternehmen, das auf Augenhöhe führt. Versteh mich nicht falsch, ich finde die Grundidee des lateralen Führens durchaus gut, aber ich glaube einfach nicht daran, dass dies langfristig professionell eingeführt werden kann. Wie du schon schreibst, es bedeutet eine Art Machtverlust.
Im Film fehlt mir das Wie, also wie kann ich in die Welt auf „Augenhöhe“ einsteigen? Veränderungsprozesse sind immer schwierig umzusetzen.
Der Film bietet eher einen Einstieg in die Diskussion, als die Antwort auf die Frage des Wie. Frederic Lalouxs Buch bietet Antworten. Ich bin noch nicht durch mit dem Lesen. Klar ist aber jetzt schon: Führung auf Augenhöhe muss von oben, also von Vorständen, Firmenchefs oder Leitungen gewollt werden. Es geht nicht, dass die Mitarbeiter damit anfangen.
Ich werde mir das Buch sehr bald ansehen, vielen Dank für den Tipp!
Danke Patrick, für den Kommentar!